Die 6. Ausgabe der Tanznacht Berlin, konzipiert und kuratiert von Peter Stamer
Die Tanznacht Berlin ist eine feste Größe in der Festivallandschaft der Hauptstadt und gibt seit 2000 alle zwei Jahre einen umfassenden Überblick über aktuelle und zukunftsweisende Strömungen des zeitgenössischen Tanzes ‚Made in Berlin’. Überzeugte das künstlerische Team der Tanzfabrik um Kurator Peter Stamer bereits 2008 mit einer Neuausrichtung des Formats, so erschien das Konzept des Festivals 2010 radikalisiert und richtete seinen Fokus auf den Weg des Produzierens selbst: 25 Tanzschaffende kamen für 5 Wochen in den Uferstudios zur Erkundung von künstlerischen Arbeitsprozessen, Entwicklung von Grundlagen und künstlerischen Strategien zusammen, um eigene und kollektive künstlerische Projekte umzusetzen.
Im Zentrum standen Fragen nach den Grundlagen künstlerischen Schaffens – was bestimmt die Zusammenarbeit? Welche Rolle spielen die jeweiligen Hintergründe, Erfahrungen und artistischen Praktiken? Wie lassen sie sich miteinander vereinbaren? Damit ging die Tanznacht zurück an die Wurzeln künstlerischen Schaffens, zeigte gleichermaßen den kreativen Prozess und die daraus entstehenden Produktionen. An die Stelle der Programmatik eines Festivals stellte die Tanznacht Berlin in diesem Jahr die Offenheit des Prozesses und des Kollektivs, das aus verschiedenen Vertretern des zeitgenössischen Berliner Tanzes eine künstlerische Gemeinschaft bildete. Peter Stamer hatte zunächst die acht in Berlin lebenden Choreografinnen und Choreografen Ami Garmon, Jared Gradinger, Mariola Groener, Clint Lutes, Hanna Hegenscheidt, Felix Marchand, Odile Seitz und Litó Walkey von diesem neuen Format begeistern können. Jeder von ihnen lud dann zwei weitere Berliner Künstlerinnen und Künstler aus dem Bereich des zeitgenössischen Tanzes ein: Angela Schubot, Günther Wilhelm, Lina Lindheimer, Irina Müller, Clément Layes, Gilles Viandier, Melanie Lane, Ulrich Huhn, Ayara Hernández, Christina Ciupke, Raffaela Galdi, Frank James Willens, Hyoung-Min Kim, Patrick Slepica und Lisa Densem.
Mit der 6. Ausgabe hat sich die Berliner Tanznacht wieder neu erfunden: ab dem 1. November 2010 kamen 25 Tanzschaffende aus Berlin in den Uferstudios zusammen und formten THE VILLAGE!
Über einen Zeitraum von mehr als 5 Wochen arbeiteten die KünstlerInnen an inhaltlicher Vorbereitung und künstlerischer Umsetzung des Festivals. Neben ersten Showings luden die Teilnehmer von THE VILLAGE – Tanznacht Berlin 2010 zur Präsentation vom 2.-5. Dezember 2010.
THE LAST SUPPER | THE VILLAGE
Aus ‘Stilbruch’, dem Kulturmagazin des RBB, 2010
Immer wieder luden die Teilnehmer von THE VILLAGE die Öffentlichkeit in die Uferstudios ein, gewährten Einblicke in den Probenprozess und stellten den aktuellen Stand ihrer Zusammenarbeit zur Schau – nicht zuletzt online im Blog. In einem ersten Testlauf im November 2010, THE FEAST, baten die Künstlerinnen und Künstler über 100 Gäste zu einem Dinner mit Performances in das Studio 14.
NPR on Tanznacht Berlin – The Village
Vom 2.-5. Dezember 2010 wurden die Ergebnisse des Schaffensprozesses dann an vier durchgehenden Tagen unter unterschiedlichen Titeln präsentiert:
Donnerstag, 2. Dezember, 20 – 2 Uhr ABEND
Spielanleitung: Höre und schaue genau hin und versuche, den Anweisungen und Impulsen zu folgen. Nicht jede Anweisung ist buchstäblich umzusetzen. Machst du einen Vorschlag, entwickle ihn über eine längere Zeitspanne, damit er sich etablieren kann. Hast du einen Gedanken, der zu einem Vorschlag führen könnte, überlege, ob nun der richtige Moment dafür ist. Reagiere nicht auf jeden Musik- und Lichtwechsel, behalte deine Aktion bei. Bei WE ARE ZERO geh zurück auf Start. Verwirfst du einen Vorschlag, hebe ihn für einen späteren Zeitpunkt auf. Schlage eine Aktion vor, ohne diese zu forcieren. Nicht jeder Vorschlag muss sofort ausgeführt werden, du kannst verschiedene Vorschläge akkumulieren. Entscheide selbst, zu welchem Zeitpunkt du dich innerhalb oder außerhalb des Spielfelds bewegst. Versuche, durch Augenkontakt oder Körperkonstellationen situative Ereignisse zu schaffen. Beachte: jede Präsenz im Spielfeld ist ein potenzielles Ereignis. Spiele das Spiel und halte die Konzentration bis zum Ende. Wenn du im Laufe der Stunden die Konzentration oder den Kontakt zur Gruppe verlierst, beobachte das Feld und übe dich in Geduld. Hab Spaß und genieße den Moment.
WE ARE PERFORMING A COMMUNITY. WE ARE ZERO. WE ARE WHERE WE ARE.
Freitag, 3. Dezember 2010, 8 – 14 Uhr VORMITTAG
WE WERE_The Exhibition
Seit über 5 Wochen geben die Choreografen in THE VILLAGE jeden Tag ihr Körperwissen weiter. Aus dieser Durcharbeitung und Vermischung entstand ein Archiv aus Bewegungen und Körperbildern, aus Textdokumenten und Objekten, die ab 8 Uhr im temporären Dorf-Museum gezeigt werden. Die Künstler führen das Publikum ab 8.30 Uhr persönlich durch die Ausstellung von Stop-Motion-Skulpturen, Soundcollagen, einer Mini-Kino-Lounge oder Fotogalerien. Die Führungen für jeweils 15 Personen beginnen alle 20 Minuten und dauern eine halbe Stunde. Treffpunkt: Studio 1. Das Publikum ist eingeladen, die Exponate auch außerhalb der Führungszeiten zu entdecken.
Zu jeder vollen Stunde präsentiert THE VILLAGE das sich ständig erweiternde ‚Moving Archive – Under Construction’ mit Bewegungssegmenten, welche die Choreografen im Laufe ihrer Karriere erlernt und entwickelt haben. Choreografische Beiträge der Zuschauer sind herzlich willkommen!
Zwischen 9 und 13.30 Uhr bieten unterschiedliche Dorfbewohner im Studio 12 eine durchgehende Trainingssession an. Die Klassen sind zu jeder Zeit und für jede Alters- und Bewegungsstufe offen. Bei Bedarf stellt THE VILLAGE Trainingskleidung zur Verfügung.
Samstag, 4. Dezember 2010, 2 – 8 Uhr NACHT
WE WOULD HAVE BEEN_Eine Traumnacht
Wo können sich Gedanken, Ideen, Körper, die im Alltag keinen Platz finden, breit machen? Wo werden lang gehegte, geheime Wünsche endlich erfüllt? Wo werden Träume wahr? In der langen THE VILLAGE-Nacht! Ab 2 Uhr, der Samstag morgen ist gerade mal zwei Stunden jung, steht das Dorf seinem Publikum für die umfassende Wunscherfüllung zur vollkommenen Verfügung. Sie wollen mit einem heimlichen Schwarm ein Tänzchen wagen, schaurig-schöne Geschichten zum Einschlafen oder Aufwachen hören, endlich ihren Lieblingssong vor einem großen Publikum zum Besten geben? Bei uns liegen Sie mit Ihren Träumen goldrichtig, zudem auf Betten, die wir für Sie aufschlagen und sogar vorwärmen, wenn es sein muss. Ganz sicher wird Sie unsere Traum-Tool-Box auf Ihnen bislang unbekannte Träume aufmerksam machen, die sie bisher nicht zu träumen wagten… Bleiben Sie über Nacht, teilen Sie mit uns Ihre Träume, dann servieren wir Ihnen ab 7 Uhr Ihr Frühstück ans Bett – mit einem Lächeln. Auch die Dorf-Choreografen werden sich in dieser langen Nacht Wünsche erfüllen, die sie in den 5 Arbeitswochen nicht realisieren konnten. Ein Festival der Träume! Lassen Sie sich überraschen!
Sonntag, 5. Dezember 2010, 14 – 20 Uhr NACHMITTAG
WE WILL BE_Ein Zukunftskongress
Am letzten Tag wirft THE VILLAGE einen Blick aus der Zukunft zurück auf die Gegenwart. Wie sieht im Jahre 2050 die Zukunft des Tanzes aus? Tanzen wir noch, wenn wir alt und unbeweglich sind? Wird es so etwas wie eine freie Tanz-Community noch geben? Der Sonntag Nachmittag gibt Raum für augenzwinkernde Vorschläge, wie wir in der Zukunft mit diesen Herausforderungen umgegangen sein werden. Wir wagen den Blick nach vorne und wieder zurück, in diversen Gesprächsrunden, pneumatischen Vorträgen, Tarot-Sessions, einer gemeinsamen geriatrischen Tanz-Therapie oder kontemplativen Spaziergängen zur inneren Einkehr. Gegen Abend versammeln sich die Dorf-Ältesten an einer langen Tafel, um bei einem letzten gemeinsamen Mahl ihre eigene Perspektive auf die Zukunft zu entwerfen. Persönliche Wünsche, im Laufe des Nachmittags gesammelt, werden zum Abschluss der Tanznacht Berlin 2010 in einem großen Feuerritual verbrannt. Ein Fanal für die Zukunft. (click on link for video clip)
In diesen Zeiten spiegelte sich ein umfassender Arbeitstag mit seinen Tages- und Nachtphasen: Training und Körperpraxis, Improvisation und Choreografie, Reflektion und Diskussion, Methoden und Performance, Körperarchiv und Zeitgenossenschaft, Chor und Solo, Kreation und Weitergabe, Arbeit und Camp, Blaue Stunde und Dämmerung, Kunst und Leben. Die unterschiedlichen Öffnungszeiten sollten dabei zugleich verschiedenen Zuschauertypen entgegenkommen: dem klassischen Publikum, den Freunden der Matinée, den Nachtschwärmern oder den Sonntagnachmittagsausflüglern. Sie und alle anderen hatten vier Tage lang Gelegenheit, das Dorf in seiner Vielfältigkeit ausführlich kennenzulernen.
Die vier Öffnungen gaben damit vier verschiedene künstlerische Sein- und Projektionsweisen von Gemeinschaft wieder, die sich griffig in vier grammatische Tempi fassen ließen: Präsenz, Präteritum, Konditional und Futur: Wer sind wir JETZT, wer waren wir noch GESTERN, wer hätten wir MÖGLICHERWEISE sein können, wer werden wir in ZUKUNFT sein? In diesen Fragen spiegelt sich die Potenzialität und damit auch die (Un-)Möglichkeit einer Gemeinschaft, deren Bedingungen nur auf einer Prämisse fußt: nämlich der, dass sie eine Gemeinschaft bildet. Die vier Zeitdimensionen versuchten damit vier Ausschnitte wie auch Möglichkeitsbedingungen von gemeinsamem künstlerischem Arbeiten wiederzugeben, die nichts anderem als dem eigenen Ziel verpflichtet ist, zusammenzuarbeiten. In diesem Sinne könnte man THE VILLAGE auch als post-künstlerisches Vorhaben bezeichnen, wonach der Ausdruckssehnsucht des künstlerischen Individuums ein übergeordnetes, gleichwohl nicht-teleologisch geprägtes Tun pluraler Selbstformen gegenübergestellt wurde. In jenem Sinne hat sich THE VILLAGE von einem anfänglichen Selbstzweck ohne Mittel (die Gruppe traf sich zunächst nur aufgrund einer Einladung, die die einzelnen Mitglieder in spe lediglich als Teilnehmer, nicht aber als Mitglieder einer gemeinsamen Idee adressiert hat) zu einem sozialen Mittel im Sinne eines Mediums ohne Selbstzweck gewandelt (die Beteiligten haben die Spielformen von Arbeit und Öffentlichkeit nicht als auf das Ziel der Selbstdarstellung gerichtetes Unterfangen verstanden, sondern als ein Zusammen-Sein heterogener Mit-Glieder, dessen ‚MIT’ aus der Mitte der ständigen Aushandlung entsprungen ist.) Aus dem schieren Zusammenhalt im Sinne einer Gruppenverpflichtung entwickelte sich ein künstlerisches Mit-Sein und damit eine An-Teilnahme, die das Zusammensein vor allem als ethische und emotionale Ver-Antwortung füreinander verstand.
THE VILLAGE_Konzept: Peter Stamer
Kommunikation: Judith Brückmann
Produktionsleitung: Christian Rudolph
Presse: Björn Pätz & Björn Frers
Technische Leitung: Andreas Harder
Mit: Christina Ciupke, Lisa Densem, Raffaela Galdi, Ami Garmon, Jared Gradinger, Mariola Groener, Hanna Hegenscheidt, Ayara Hernández, Ulrich Huhn, Hyoung-Min Kim, Melanie Lane, Clément Layes, Lina Lindheimer, Clint Lutes, Felix Marchand, Irina Müller, Angela Schubot, Odile Seitz, Patrick Slepica, Peter Stamer, Gilles Viandier, Litó Walkey, Frank James Willens, Günther Wilhelm
Ein Projekt der Tanzfabrik Berlin e.V. in den Uferstudios. Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds.
1. NOV bis 5. DEZ 2010
THE VILLAGE – Tanznacht Berlin 2010
Uferstudios • Uferstr. 23 • 13357 Berlin
Präsentation 2.-5. Dezember 2010 •