Franz Anton Cramer
„Zeitgenössisch ist nicht genug. Zur 8. Tanznacht Berlin“
Zeitgenössisch ist nicht mehr genug. Der Begriff stand einst für Aufbruch, Experiment und manchmal sogar für Subversion, jedenfalls aber für eine künstlerische Praxis, die gegen das Bestehende ging und dem Neuen zugewandt sein wollte. Mittlerweile ist aus dem Zeitgenössischen ein globaler Mechanismus geworden, dessen Regeln, Funktionsweisen und Machtansprüche mit dem ursprünglich pluralen Konzept kollidieren. Das gilt auch im Tanz. Durch die beständige Selbstaussetzung eigener Kreativität in einem Umfeld voller Innovationsdruck ist der zeitgenössische Tanz längst dem Zugriff des Marktsystems und seiner Logiken unterworfen. Das Regionale und Spezifische ist verdrängt vom Mythos des Globalen und seinen Tauschfunktionen.
Gleichwohl bleibt die Sehnsucht nach dem Eigenen, nach der Autorschaft und dem Authentischen. Je mobiler das Kunstschaffen, desto fraglicher aber die Spezifik der einzelnen Arbeit. Sie kann um die ganze Welt reisen und sich in ihr behaupten, weil die Strukturen von Distribution, Handel und institutioneller Einbindung weitgehend identische Ziele verfolgen. Wo zeitgenössisches Kunstschaffen wesentlich auf Differenzierung und Unterscheidung basiert, geht das aktuelle System der Kunst immer stärker in Richtung von Gleichmacherei, gerade um das Globale zu bedienen. Zudem begünstigt der ›kulturelle Kapitalismus‹ die Verflachung von Authentizität zur Ware: Auch das, was bislang außerhalb der Marktlogik zu stehen schien – Gefühle, Atmosphären, Gewohnheiten, Individualität – ist längst zur Ressource der Innovation und Verwertung geworden, wie Luc Boltanski und Ève Chiapello gezeigt haben.
Die 8. Tanznacht Berlin mit ihrem Auftrag, die aktuelle Lage der Berliner Tanzlandschaft zu bündeln, schlägt vor diesem Hintergrund eine andere Perspektive vor: Sie formuliert „die Frage nach der Verortung und der Herkunft von Tanzbiografien “. Um nicht immer nur das jeweils neueste zu promoten, hat Kuratorin Heike Albrecht zum einen Wiederaufnahmen programmiert, zum anderen Arbeiten, die „künstlerische und populäre Projekte zueinander in Beziehung setzen“ und es Tanzschaffenden ermöglichen, „in konkreten Initiativen ihre choreografische Praxis im und mit dem städtischen Umfeld zu aktivieren und zu hinterfragen“. Womit auch die Orte und Räume aufgerufen sind, in denen Tanz überhaupt erst stattfinden kann – diesseits einer globalen Ästhetisierung von Werkprozessen und Differenz. Damit wird zugleich der Begriff der Folklore, als Gegenstück zum ebenso schillernden Begriff der Avantgarde, gestärkt.
Immerhin hatte Tanz schon früh Kontakt zur Industrialisierung aufgenommen. In der frühen Sowjetunion wie im England der Nachkriegszeit untersuchte Bewegungsforschung nicht nur Kunst, sondern auch Arbeit. Tanz wurde die Schnittstelle zwischen Produktionssteigerung und Kunstschaffen. Und hatte zuvor die außereuropäische Ethnologie Wege aufgezeigt, wie Kultur als Artefakt begriffen und verstanden werden kann, wandten sich Volkskundler und Folkloristen der Frage zu, wie das Künstliche des Tanzes als Authentisches gelesen werden könnte. So reagierte schließlich die Folklore in ganz ähnlicher Weise auf die Krisen der Moderne wie der postmoderne Tanz: beide versuchten, sich aus den Fängen der Geschichte zu befreien.
Das markiert vielleicht auch den aktuellen Auftrag: einen Platz im Jetzt zu finden, zwischen Verwertung und Autonomie.
© 8. Tanznacht Berlin