Oh Voice!
Eine kuratorische Einführung zur Tanznacht Berlin 2025. Vocal Affairs von Mila Pavićević & Felicitas Zeeden
O refrain! O hunger! O exhibitionary conditions!
O erotic linguistics!
O labor movements!
O body of desire! O body in labor! O primary text!
O fear of speech!
O wrong words!
O starting to speak!
O breath! O throat!
O thirst! O voice!
Quinn Latimer: “Labor Poetics or, Score for Exalted Breathing” (Auszug)[1]
O voice! ist die abschließende Exklamation des Gedichts Labor Poetics or, Score for Exalted Breathing, das der serbisch-ungarischen Klang- und Performancekünstlerin Katalin Ladik gewidmet ist.[2] O Voice! ist ein Ausruf, der uns auch während unseres gemeinsamen Kuratierens für die diesjährige Ausgabe der Tanznacht begleitet hat: Tanznacht Berlin. Vocal Affairs. Diese Ausgabe rankt sich um die feministische Stimme und untersucht deren physische, klangliche und politische Dimensionen – Dimensionen, die grundlegend miteinander verflochten sind.
Eine politische Stimme im Sinne des Wahlrechts war – in unterschiedlichen geopolitischen Kontexten – traditionell privilegierten Gruppen vorbehalten, definiert durch Nationalität, ethnische Zugehörigkeit, sozialen Status und Geschlecht. Dass Frauen* in vielen europäischen Ländern noch bis weit ins späte 20. Jahrhundert hinein das politische Stimmrecht verweigert wurde,[3] hat sich über Generationen hinweg in unsere kollektiven Erzählungen und Identitäten eingeschrieben. Dass darüber hinaus, also jenseits von streng juristischen Vorgaben, auch religiöse und gesellschaftliche Sanktionierungen sowie hegemoniale Diskurse Stimmen unterdrücken können – im Besonderen Stimmen von Frauen*, marginalisierten Gruppen bzw. Menschen, die am Rand gesellschaftlicher, politischer und kultureller Macht stehen – haben unlängst die feministische Theorie und der postkoloniale Diskurs gezeigt.
Für uns bedeutet ‚eine Stimme haben‘ – to be vocal – nicht nur politische Handlungsfähigkeit zu besitzen, sondern aus feministischer Perspektive auch, eine physische, leiblich-materielle Präsenz zu verkörpern. Genau dieses Zusammenspiel rückt Vocal Affairs ins Zentrum: die Stimme in ihrer Klanglichkeit und expressiven Kraft – als Ausdrucksform von Lust, Unbehagen und Widerstand – ebenso wie als Trägerin von Vernetzung und Austausch zwischen kollektiven Körper der Solidarität. Vor diesem Hintergrund möchten wir unseren Fokus auf zeitgenössische Künstler*innen richten, die eine starke feministische Stimme verkörpern.
Traditionell wird (auch) vom tanzenden (Ballett-) Körper erwartet, ein stiller, stimmloser Körper zu sein: „As we know, one of the most important conventions of the ballet body is its dancing voicelessly, gliding along and challenging the limitations of gravity without any sound. The breathing of the body must be silent, its physical efforts inaudible.”[4] Bojana Kunst konstatiert in ihrem Text The Voice of the Dancing Body, dass anfangs der moderne – und in der Folge zeitgenössische – Tanz den Körper von der Norm der Lautlosigkeit emanzipiert habe. Der zeitgenössische Körper im Tanz sei „a noisy, gravitational, heavy, loud, and also fluid and elusive open body.”[5] Mit einer solchen Vorstellung eines ‚lauten‘ und ‚offenen‘ Körpers steht die feministische Stimme als künstlerische und politische Positionierung in einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft im Mittelpunkt des Festivals.
Da patriarchale Strukturen eng mit finanzieller Diskriminierung von Frauen* sowie intersektional marginalisierten Gemeinschaften verknüpft sind, versucht das Festival auch Dynamiken des Hyperkapitalismus zu unterminieren und legt einen weiteren Fokus auf die Unterstützung und Präsentation von nicht-geförderten Projekten. Die Berliner Szene gerät angesichts der verheerenden Kürzungen der Kulturförderung ins Wanken: Fördergelder und Projekträume für Kunst werden knapp, das Produzieren von künstlerischen Arbeiten sowie das Erstellen von Saison- und Festivalprogrammen ist nur noch reduziert möglich. Statt in dieser Situation in eine Logik des Gegeneinanders zu geraten, bei der um die wenigen verfügbaren Mittel konkurriert wird, möchten wir Kulturschaffende, Künstler*innen und Teams von Kulturinstitutionen mitsamt ihren Publika und deren Nachbarschaften zusammenbringen. Vor diesem Hintergrund haben wir für Vocal Affairs mit lokalen Partnerorganisationen aus dem Wedding zusammengearbeitet: Mit SAVVY Contemporary – das nur wenige Gehminuten vom Gelände der Uferstudios am Nettelbeckplatz Martha Ndumbe Platz liegt[6] – und dem PSR-Kollektiv haben wir zwei Weddinger Partnerorganisationen gewonnen, mit denen wir unser Programm ko-kuratiert und neue Spielorte für die Tanznacht hinzugewonnen haben.
So entwerfen wir eine neue, solidarische und feministische – wenn auch nur vorübergehende – Kartografie des Weddings. Die dezentrale Topografie wird durch den neuen Spielort der Tanzfabrik in der Grüntaler Straße 9 vervollständigt. Mit seiner offenen Architektur und einer frei zugänglichen, fortlaufenden Installation öffnet er sich für die Festivalzeit gegenüber der Nachbarschaft im Gesundbrunnenkiez.
Als Festivalzentrum fungiert die im Studio 12 installierte feministische Bibliothek, eingerichtet von dem Leipziger Literaturkollektiv MONAliesA, dessen Bestand um feministische Literatur aus Ostdeutschland bzw. der ehemaligen DDR kreist. Die Bibliothek ist Festivalzentrum und Ort für Begegnungen, Diskurs, soziale Praxis und täglicher Austragungsort der Sijelo-Aktivitäten. Durch die Verankerung dieser Praxis in der Bibliothek schafft das Festival einen lebendigen Schnittpunkt von Kunst, Theorie und gesellschaftlichem Engagement – einen Ort, an dem ein Dialog zwischen vielfältigen Perspektiven angeregt wird. Historisch war ein Sijelo eine Zusammenkunft vor allem von Frauen* in ländlichen Gemeinschaften des ehemaligen Jugoslawiens, die in privaten Haushalten stattfand – also dort, wo Arbeit und soziales Leben untrennbar miteinander verwoben waren. Inmitten von rhythmischen Tätigkeiten wie Spinnen, Sticken, Stricken, Maisreiben oder dem Rupfen von Federn wurden Fähigkeiten weitergegeben und Geschichten gesponnen, während der Raum erfüllt war von Gelächter, Gossip und Erzählungen. Insbesondere Frauen teilten dort ihre Erfahrungen und diskutierten über ihre politische Haltung, während jüngere Generationen spielerisch lernten, Wissen aufsogen und soziale Bindungen knüpften.
Das Sijelo-Format der Tanznacht versteht sich als Fortsetzung dieses feministischen Erbes, dessen Tradition wir in einem performativen Rahmen wiederbeleben wollen. Sijelo dient uns als Metapher feministische Zusammenkünfte neu zu denken und eine Atmosphäre des gemeinsamen Lernens und Verbindens zu schaffen, die über Grenzen hinweg wirkt. Dies ist kein nostalgischer Rückblick, sondern eine aktive Re-Imagination des Zusammenseins. Sie sind eine Wertschätzung konkreten handwerklichen Wissens und der immateriellen Kraft gemeinschaftlich getragener Erzählungen. Thematisch beleuchten unsere Sijelo-Formate unterschiedliche Formen von Arbeit: von Aktivismus und Sexarbeit bis hin zu Praktiken von Heilung, Handarbeit und Reparatur.
Mit Vocal Affairs versuchen wir, die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Arbeitsfeldern innerhalb des Tanznacht-Programms sichtbar zu machen und die Solidarität zwischen ihnen zu stärken. Denn Intersektionaler Feminismus bleibt eine dringend notwendige Praxis – nicht nur als Diskurs, sondern auch als Handeln, Lernen, Lehren und Performen. Ebenso birgt dieser Feminismus das Potenzial, linker Politik Werkezeug in die Hand zu geben, die es ihr ermöglicht breite Allianzen zu formen. Denn nur zu gerne verfangen sich progressive Bewegungen in vorgefertigten Identitäten, anstatt Solidaritäten zu stiften, die über das eigene Umfeld hinausreichen. In Zeiten der Krise – ob kulturelle, ökologische oder kriegerische – scheint es, als müsse man nochmals neu beginnen, ohne die langen Wege und Kämpfe jener anzuerkennen, die vor uns waren.
Diese Ausgabe der Tanznacht versteht sich als Einladung, Teil einer lebendigen Tradition zu werden, neue Netzwerke des Wissens und der Solidarität zu knüpfen und die Arbeit der Frauen* vor uns (und um uns) anzuerkennen. Die vorliegende Publikation versammelt einige ihrer Stimmen – sie entstammen unterschiedlichen Disziplinen, Perspektiven und geografischen Verortungen, unter anderem dem protestbewegten Belgrad – und trägt sie für die Zeit des Festivals bis in den Wedding – hinein in unsere Körper, Stimmen und Erinnerungen, um dort Resonanz zu finden:
O poem! O body! O voice! O labor!
O technologies that wed and weave and loop them together!
O text and textile, O filmed letter, O circuit-board manufacture!
O laborious breath!
O my of breathing!
O ancient peotic seafaring epic as gendered expert weaving!
O nocturnal unravelling!
O vocal technologies of gender and lyric and epic and performance!
Quinn Latimer: “Labor Poetics or, Score for Exalted Breathing” (Auszug)[7]
[1] Zitiert nach: Hendrik Folkerts (Hrsg.), Katalin Ladik. Oooooooo-pus, veröffentlicht von Skira editore S.p.A., Mailand, Italien, 2023.
[2] Die Performance „U.F.O.“ von Jule Flierl und Irena Tomažin, präsentiert bei der diesjährigen Tanznacht, ist eine Hommage an Katalin Ladik.
[3] Mit der Schreibweise Frauen* schließen wir einen Personenkreis ein, der trans-Frauen, nicht-binäre, inter und andere Personen, die sich (ganz oder teilweise) als weiblich identifizieren oder aufgrund gesellschaftlicher Zuschreibungen als weiblich gelesen und entsprechend diskriminiert werden. Die Schreibweise mit Asterisk soll diese Vielfalt sichtbar machen und einschließen.
[4] Bojana Kunst: „The Voice oft he Dancing Body“
[5] Ebd.
[6] Wir haben diese Schreibweise von SAVVY Contemporary übernommen. Sie verweist auf die Umbenennung des Platzes – initiiert von verschiedenen antikolonialen Initiativen in Berlin und beschlossen von der Bezirksverordnetenversammlung Mitte, aber bislang noch nicht umgesetzt.
[7] Zitiert nach: Hendrik Folkerts (Hrsg.), Katalin Ladik. Oooooooo-pus, veröffentlicht von Skira editore S.p.A., Mailand, Italien, 2023.